
Ich habe mich einmal bei ein paar Bierchen mit einem griechischen Kollegen unterhalten, der mir eine einfache, aber faszinierende Frage gestellt hat: Was ist das Grundnahrungsmittel der Ukraine? Reis oder Mais waren es offensichtlich nicht, also was war es – Weizen oder Kartoffeln?
„Natürlich, Weizen“, habe ich ohne zu zögern geantwortet. Damals bin ich nicht näher darauf eingegangen, aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, verdient diese Frage eine ausführlichere Antwort. Weizen ist in der Ukraine weit mehr als nur ein Grundnahrungsmittel – er ist tief mit der Geschichte, den Traditionen und der Identität des Landes verwoben.
Ukraine: Die Kornkammer Europas
Die Ukraine gilt seit langem als die Kornkammer Europas und produziert Weizen in atemberaubenden Mengen. Im Jahr 2021, im Jahr vor der groß angelegten russischen Invasion, hat die Ukraine 32 Millionen Tonnen Weizen geerntet und war damit der sechstgrößte Weizenproduzent der Welt. Unter den fünf größten Weizenproduzenten – China, Indien, Russland, den Vereinigten Staaten und Frankreich – ist nur Frankreich flächenmäßig mit der Ukraine vergleichbar. Mehr als die Hälfte der ukrainischen Weizenernte (19 Millionen Tonnen) wurde exportiert und ernährte Millionen Menschen weltweit.
Eine Kornkammer zu sein, bedeutet jedoch nicht immer, dass die Ukraine auch Brot auf dem Tisch hat. Die Geschichte hat dies auf tragische Weise gezeigt, insbesondere während des Holodomor von 1932–1933, einer von der Sowjetunion künstlich gemachten Hungersnot. Mindestens vier Millionen Ukrainer verhungerten, obwohl sie in einer der fruchtbarsten Regionen der Welt lebten.
Brot in ukrainischen Bräuchen und Traditionen
Solche historischen Tragödien haben die ukrainische Kultur nachhaltig beeinflusst und die Wahrnehmung und Wertschätzung von Brot geprägt. Eine besondere Tradition ist der Brauch, versehentlich heruntergefallenes Brot zu küssen. Obwohl meine Familie das Glück hatte, den Schrecken der sowjetischen Besatzung in den 1930er Jahren zu entkommen, wurde mir schon in jungen Jahren beigebracht, ein heruntergefallenes Stück Brot aufzuheben und zu küssen. Diese Tradition, die in tiefem Respekt vor Brot verwurzelt ist, gebe ich nun an meine eigenen Kinder weiter.
Ein weiterer wichtiger Brauch besagt, dass Brot niemals weggeworfen werden sollte, es sei denn, es ist absolut ungenießbar. Stattdessen wird altes Brot weiterverwendet – zu Paniermehl verarbeitet, zum Kochen verwendet oder an Tiere verfüttert. Brotverschwendung gilt als höchst respektlos.
Brot spielt auch bei wichtigen Lebensereignissen eine symbolische Rolle
Hier sind ein paar Beispiele:
Einweihungsgeschenke – Es ist üblich, Brot mitzubringen, wenn man jemandes neues Zuhause besucht, als Symbol für den Wunsch nach Wohlstand.
Neugeborenenfeiern – Der Familie eines Neugeborenen wird süßes Brot geschenkt, um dem Kind ein schönes und erfülltes Leben zu wünschen.
Gäste ehren – Brot wird lieben Gästen als Zeichen des Respekts und der Gastfreundschaft angeboten.
Brot bei Hochzeiten
Auch bei ukrainischen Hochzeiten spielt Brot eine wichtige Rolle. Die Eltern (bzw. Gotteseltern) von Braut und Bräutigam verwenden eine besondere Brotsorte namens Korovai, um das Brautpaar zu segnen. Dieses kunstvoll verzierte Brot steht im Mittelpunkt des Hochzeitsmahls und wird später unter allen Gästen geteilt. Es symbolisiert Einheit und familiäre Bindungen.
Brot in ukrainischen Sprichwörtern
Die Bedeutung des Brotes spiegelt sich auch in ukrainischen Sprichwörtern wider, die seine grundlegende Rolle im Leben betonen:
„Brot ist das Haupt von allem“ (Хліб — усьому голова) – Brot wird als überlebenswichtig hervorgehoben.
„Ohne Brot gibt es keine Mahlzeit“ (Без хліба немає обіду) – Eine Mahlzeit ist ohne Brot unvollständig.
„Solange es Brot und Wasser gibt, ist es noch nicht schlimm“ (Поки є хліб та вода, то іще не біда) – Drückt Widerstandskraft und Optimismus aus.
„Wenn du süße Brötchen essen willst, setz dich nicht tatenlos beim Backofen“ (Хочеш їсти калачі, не сиди на печі) – Um Belohnungen zu genießen, ist harte Arbeit nötig.
„Ohne Brot macht auch Honig nicht satt“ (Без хліба, і медом ситий не будеш) – Das Wesentliche ist wichtiger als Luxus.
„Schweiß auf dem Rücken bedeutet Brot auf dem Tisch“ (Піт на спині, так і хліб на столі) – Harte Arbeit führt zum Lebensunterhalt.
„Auf schwarzem Boden wächst Weißbrot“ (На чорній землі білий хліб родить) – Gute Ergebnisse entstehen durch Anstrengung und Sorgfalt.
Brot hat in der Ukraine eine tiefe kulturelle Bedeutung und symbolisiert Leben, Wohlstand und Gastfreundschaft. Es ist weit mehr als nur ein Grundnahrungsmittel – es steht für Überleben, Widerstandsfähigkeit und Tradition. Durch Bräuche, Sprichwörter und historische Erinnerungen ehren die Ukrainer Brot bis heute – nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als heiliges Symbol ihrer Identität und ihres Erbes.
Verfasst von

Michael Svystun
Programmierer, Unternehmer.