
Viele Ukrainer sprechen Russisch und manche betrachten es sogar als ihre Muttersprache. Auch im Ausland hört man oft Russisch von Menschen, die aus der Ukraine dorthin ausgewandert sind. Gleich vorweg: Einige Russen im Ausland geben aus verschiedenen Gründen vor, Ukrainer zu sein. Hier wollen wir jedoch die Frage beantworten: Wie ist es dazu gekommen, dass Ukrainer Russisch sprechen?
Die Situation des „Sprachenproblems“ in der Ukraine hat mehrere Ursachen. Eine davon ist die jahrhundertealte, gewaltsame und systematische Russifizierung von Bildung, Kultur und der gesellschaftlich-politischen Sphäre.
Ein weiterer Grund für die Russifizierung der Ukrainer ist demografischer Natur. Durch den Holodomor und die Repressionen hat die Bevölkerung der Ukraine enorme Verluste erlitten. Millionen Ukrainer starben im Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus vernichtete die sowjetische Regierung gezielt die ukrainische Intelligenz, die sie des Nationalismus beschuldigte, und verfolgte eine Politik der innersowjetischen Migration. Durch diese Politik wurden Teile der ukrainischen Bevölkerung vertrieben, während andere in die Regionen der aktiven wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion gezogen sind, oft im Rahmen massiver Agitations- und Propagandamaßnahmen; gleichzeitig wurden viele Russen in die Ukraine umgesiedelt.
Durch die Vermischung der verschiedenen ethnischen Gruppen und die starke staatliche Unterstützung der russischen Sprache wechselten die Menschen nicht nur in offiziellen Bereichen, sondern auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation auf Russisch. Zudem dominierte Russisch im Bildungssystem und in den Medien. Viele Ukrainer wurden auf Russisch ausgebildet, die meisten Bücher, Filme und Fernsehsender waren auf Russisch, was die sprachlichen Gewohnheiten der Bevölkerung prägte.
Nach dem Anfang des Krieges erkannten viele russischsprachige Ukrainer die Bedeutung der ukrainischen Sprache als des Symbols nationaler Identität und begannen, auf Ukrainisch zu wechseln.
Dennoch sprechen auch heute viele Menschen in der Ukraine Russisch. Psychologen erklären dies mit verschiedenen Gründen, darunter mit dem Perfektionisten-Syndrom (wenn man glaubt, sein Ukrainisch sei nicht perfekt, sondern mit Elementen von „Surzhyk“ oder sogenannten „Russismen“ durchsetzt, weigert man sich, Ukrainisch zu sprechen) und das Syndrom der erlernten Hilflosigkeit (die Person glaubt, sie könne die Aufgabe nicht bewältigen, und gibt auf, ohne es überhaupt zu versuchen). Sprachgewohnheiten zu ändern, fällt auch älteren Menschen schwer. Laut Statistik hielten im Juni 2024 nur 27% der Ukrainer ihre Kenntnisse der ukrainischen Sprache für ausreichend, um im Alltag zu kommunizieren, fanden es aber schwierig, über Fachthemen zu sprechen; nur 3 % empfanden die Kommunikation auf Ukrainisch als eine Herausforderung.
So wie die Verbreitung der russischen Sprache in der Ukraine das Ergebnis langwieriger historischer Prozesse und politischer Einflüsse war, erfordert auch die Wiederbelebung und Verbreitung der ukrainischen Sprache Zeit und Anstrengung. Menschen können dies unterstützen, indem sie selbst Ukrainisch lernen. Es gibt kein besseres Vorbild für einen russischsprachigen Ukrainer als ein Amerikaner oder Deutscher, der ihn auf Ukrainisch grüßt und nach seinem Befinden fragt!
Weitere statistische Daten zum „Sprachenproblem“ in der Ukraine finden Sie hier: https://razumkov.org.ua/napriamky/sotsiologichni-doslidzhennia/identychnist-gromadian-ukrainy-tendentsii-zmin-cherven-2024r (auf Ukrainisch).
Verfasst von
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Iryna Prozhohina
Philologin, außerordentliche Professorin, Taras-Schewtschenko-Universität Kyjiw. Erforscht die ukrainische Sprache und Kultur und unterrichtet Ukrainisch für Ausländer.
Übersetzt von

Michael Svystun
Programmierer, Unternehmer.